Joachim Breitner

Spaziergang nach Süden

Published 2011-04-14 in sections Deutsch, Indien.

Heute war ein Feiertag. Nationale Feiertage werden in Indien wohl vier Wochen vorher von der Regierung ausgerufen, und uns Studenten dann drei Tage vorher mitgeteilt. Eigentlich wäre dies mein letzter Vorlesungstag gewesen, aber so hatte ich frei und nahm mir vor, einfach mal gen Süden zu gehen, schauen wie weit ich komme und was ich dabei entdecke.

Ich machte mich also vom Market Gate des IIT auf durch Powai und dann die Straße über den Hügel nach Vikhroli. Aber statt dann der Straße wieder in die Ebene zu folgen, lief ich quer in das Viertel, das sich an diesen Osthang schmiegt. Ich glaube nicht dass sich oft Ausländer hier hin verirren, denn die Kinder waren alle hocherfreut und aufgeregt, und alle wollten das ich Bilder von ihnen mache. Ein paar hundert Meter weiter winkte mich dann ein junger Mann zu sich. Generell bin ich bei solchen am ehesten vorsichtig, aber Hallo sagen schadet ja nicht. Er wollte natürlich wissen wo ich hin will und als ich meinte, ich erkunde ziellos die Gegend, bot er mir an mich auf den Bergkamm zu führen, von wo ich nach Osten, nach Vikhroli und Ghatkopar, als auch nach Westen, in das noble und teuere Hiranandani-Viertel, blicken und photographieren kann. Das lies ich mir nicht entgehen und so stapfte ich ihm hinterher durch immer kleinere Gassen zwischen den Gebäuden und zuletzt über ein paar Quadratmeter Müll auf den Hügel, und die Aussicht war in der Tat sehenswert.

Wir befanden auf einer Straße die zu einem eingezäunten Helikopterlandeplatz führt, den wir leider nicht betreten dürfen. Es handelt sich dabei angeblich um den privaten Landeplatz von Mr. Hiranandani, der diese Gegend bebaut. Richtung Westen sah ich also Vikhroli, ein Viertel dass Nitesh, wie mein Guide heißt, ohne weitere Umschweife als „Slum“ bezeichnete. Ich selbst bin da eher vorsichtige, immerhin waren es alles gemauerte Häuser und es gab Stromzähler, aber nichts desto trotz war es ein starker Kontrast zu den Hiranandani-Apartment-Hochhäusern. Ich fragte Nitesh, wie teuer so eine Wohnung ist, und er meinte dass eine Zwei-Zimmer-Wohnung 80 Crore kosten würde. Das wären 13 Millionen Euro und doch mehr als ich glauben wollte, aber „viel“ stimmt sicherlich.

Beim Abstieg merkte Nitesh wohl dass ich auch von dem Slum (ich sag das jetzt einfach auch) Photos mache und begann eifrig mich auf Motive aufmerksam zu machen: Dort nochmal eine enge Gasse, da ein paar Hunde, hier ein Tempel.

Ich bekam Durst und wollte eine Pepsi kaufen. Der Laden, den Nitesh ansteuerte, hatte nur 7up, was mir auch recht war. Nitesh trank auch eine Flasche und bestand dann darauf, dass er zahle. Kurz darauf gingen wir auch noch in einen Saftladen und tranken, weil ich sagte dass ich keinen Zuckerrohrsaft mag, bestellte er etwas das entweder Karotte oder Rote Beete war. Auch hier lud er mich ein.

Ich fragte ich natürlich ein bisschen aus und fand heraus dass er eine verheiratete Schwester und einen älteren Bruder hat und einen Bachelor of Business gemacht hat. Ich fragte ihn auch ob er eine Freundin hat und, als er das bejahe, woher er sie kennt. Die Geschichte, die ich dann zu hören bekam, ist auf jeden Fall erzählenswert, auch wenn ich mir nicht in allen Details sicher bin dass ich ihn richtig verstanden hat:

Er arbeitete einmal beim Vodafon-Callcenter und eine junge Frau rief an um ihren caller tune zu kündigen. Caller tune heißt dass ein Anrufer kein ödes Tüten hört, sondern irgendeine peppige aktuelle Musik – das gabs in Deutschland doch auch mal, oder? Er hat sie gefragt, warum sie dass denn nicht mehr wolle und sie hatte ihn angefahren was ihn das denn angehe. Das muss Eindruck gemacht haben, so dass er sich ihre Nummer notierte. Ein halbes Jahr später hat er sie dann nochmal angerufen und versucht anzubandeln, wobei sie wiederum abweisend war und forsch wissen wollte, woher er überhaupt ihre Nummer hat. Das hat er ihr zwar nicht gesagt, wohl aber was er sonst alles – dank dem Zugriff auf die Vodafon-Kundendatei – über sie weiß: Bisherige Wohnorte, Colleges etc.

Irgendwie hat das dann doch mit der Kontaktaufnahme geklappt und erst haben sie eine Weile per Internet und Telefon kommuniziert und Bilder ausgetauscht, später ist er dann zu ihr, in eine andere Stadt im gleichen Bundesstaat Maharashtra, gefahren um sie endlich mal in echt zu treffen. Dabei ist er eine Nacht geblieben, was er ausdrücklich erwähnte... Sie machte damals auch ihren Business-Bachelor, inzwischen aber ist sie zum weiterstudieren nach Mumbai gekommen und macht hier ihren Master. Nitesh meinte fast entschuldigend, dass seine „wirtschaftliche Situation“ es nicht zulässt, dass er auch weiterstudiert.

Seine Eltern kennen und mögen seine Freundin angeblich, was ich extra nachgefragt habe, weil in Indien diese oft das letzte (und nicht selten auch das erste) Wort in der Partnerwahl haben und deswegen Beziehungen gerne mal geheim gehalten werden (müssen).

Als ich dann weiterzog gab ich ihm noch meine Telefonnummer und wir verabschiedeten uns kurz. Da ich weiß dass sich das einige meiner Leser fragen, und es ja durchaus auch anders hätte kommen können: Nein, er wollte kein Geld oder sonst irgend etwas. Ich gehe davon aus dass er an so etwas nicht einmal gedacht hat, sonst hätte er beim Verabschieden dafür zumindest einen Moment innegehalten, um mir die Chance zu geben, etwas anzubieten. Er wollte die Gelegenheit nutzen und sein Englisch einsetzen und verbessern, hatte er mir schon vorher erklärt, und sonst war er wohl einfach nur erfreut, einem Gast sein Viertel zeigen zu können und ihm ein guter Gastgeber und Führer zu sein. Es spricht nicht gerade für uns, wenn wir von solchem Verhalten überrascht sind.

Ich bin also alleine weitergezogen und steuerte die R-City-Mall in Ghatkopar an. Das ist ein großer schicker Kasten mit allerlei Mode und anderen Läden. Stände er in Karlsruhe, es hätte keinen gewundert. Ich muss davon ausgehen dass von den Bewohnern des gerade besichtigten Slums nur ganz wenige sie von innen gesehen haben. Außer natürlich die vielen billigen Arbeitskräfte, die so eine Mall am laufen halten, vom Wachmann der die Taschen kontrolliert über das Reinigungspersonal – welches hier zum Teil mit kleinen elektrischen Wisch-Geräten herumfährt, vermutlich nicht weil es schneller, besser oder billiger als von Hand ist, sondern weil es beim „Publikum“ besser ankommt – bis zu den Verkäufern. Hier aß ich im foot court zu Mittag und gönnte mir dann eine Fisch-Fußmassage: Ich setzte mich an den Rand eines Beckens, in das ich meine Füße hielt, und sofort machten sich einige Duzend sehr kleiner Fische daran, mir Schmutz, Schweiß und tote Haut von den Füßen zu knabbern. Ein herrlicher Spaß, den ich von 15 auf 30 Minuten verlängerte, und der mich 400 Rupien (knapp 7 Euro) kostete.

Danach setzte ich meinen Marsch fort, der vor allem die Rikscha-Fahrer irritierte, denn sie gingen ja zu recht davon aus, dass ich mir eigentlich eine Rikschafahrt leisten kann. Da die Hauptstraße langweilig und laut ist bog ich irgendwann einfach rechts in das Wohnviertel ab, was nach 500m in einer Sackgasse endete. Der nächste Weg dagegen ging weiter, und ich folgte ihm mit nur einem ungefähren Sinn für die Richtung. Im Zweifel ging ich aufwärts. Regelmäßig hatte ich Kindertrauben um mich, die mir die Hand geben wollen und „What’s your name?“ und „How are you?“ riefen. Als ich einer Gruppe von Cricket-spielenden Kindern ihren weggerollten Ball zurückwurf, wollten sie, dass ich zweimal den Ball dem Schläger zuwerfe („bowle“) und dann auch zweimal den Schläger schwinge. Einmal habe ich sogar getroffen und den Ball in die Decke, die diesen kleinen Platz überdachte, gepfeffert – ich verstehe zu wenig von Cricket um zu wissen ob es gut ist, einfach mit Kraft draufzuhauen, aber als Baseballspieler kam mir das durchaus richtig vor.

Es stellte sich heraus dass die Straße, der ich folgte, sich langsam nach Norden biegt und den Hang zurück nach Vikhroli führt. Als ich wieder in der Gegend war, in der mich Nitesh herumgeführt hat, entschloss ich nochmal den Berg zu besteigen und der Straße, die zum Hubschrauberplatz führt, zurück nach Powai zu folgen. Ich begann also, diesmal alleine, durch die engen Gassen und zwischen den Häusern durch den Hang zu erklimmern, bis ich plötzlich wieder Nitesh begegnete, der ganz schön überrascht war, mich nochmal zu sehen. Er meinte dann dass die Straße privat ist und man ihr nicht folgen kann, und dass er mich zum richtigen Weg führen will. Er ging aber zu seinem Motorrad und wollte mich wohl damit ein Stück mitnehmen. Ich bin bisher nur ein einziges mal auf einem Motorrad mitgefahren, das war 2006 in den USA, und damals hatte ich immerhin einen Helm. Aber ich wollte nicht unhöflich sein, wies ihn darauf hin dass er nicht schnell fahren muss, um mich zu beeindrucken, und setzte mich, ohne Helm oder Einweisung oder irgendwas, hinten drauf. War dann auch nicht all zu sehr aufregend, da wir keine Schnellstraßen befuhren, sondern nur aus dem Viertel raus und dann der Straße nach auf den Berg hoch, von wo ich dann zu Fuß zurück nach Powai gelaufen bin.

Ich ging noch bei meinem Barbier vorbei, um mich rasieren zu lassen und mir eine Kopfmassage (50 Rupien, also eine achtel Fischmassage...) zu gönnen, und schloss damit diesen Erkundungstrip ab.

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